Ich möchte Sie einladen, die Perspektive zu wechseln

Ich spreche hier nämlich als Betroffene, weil ich – statistisch gesehen – einen sogenannten Migrationshintergrund habe! Was oft genug Anlass für diejenigen ist, die darüber spekulieren, ob ich genügend assimiliert, integriert, angepasst oder vielleicht auch nicht!

Redebeitrag der Architektin Tülay Güneș auf der Kundgebung gegen den Rechtsruck am  03. Februar 2024 in Hattersheim.

Mein Name ist Tülay Güneș und ich freue mich hier zu sein … Es ist unglaublich: Über 1 Million Menschen sind bereits auf die Straßen gegangen in den letzten 3 Wochen! Mittlerweile sind es nicht nur die Großstädte. Sondern es sind auch die kleinen Städte, so wie Hattersheim, die Nein sagen zu Rechts!

Toll oder?! Als Teil der wachsenden Rhein-Main-Region hoffe ich, dass wir uns weiterhin engagieren für demokratische Werte in einer pluralen Gesellschaft – so lange es nötig ist!

Was war der Anlass? Eine Journalist*innengruppe ‚Das Correktiv‘ deckte auf etwas auf. Auf einem Geheimtreffen von u.a. Mitglieder der AFD und der Identitären Bewegung wurde über einen Masterplan zur Deportation von Millionen von Migrant*Innen, nicht gut assimilierten, deutschen Staatsbürger*Innen und ihren Helfer*Innen gesprochen! Die Ähnlichkeiten mit dem sogenannten Madagaskar-Plan von 1940 der Nazis waren verblüffend. Nur 2 Jahre später auf der Wannseekonferenz entschied man sich dann doch lieber für die systematische Vernichtung – von Millionen von Jüd*innen und vielen anderen Andersdenkenden. DAS hat nur 2 Jahre gedauert! Vergessen wir aber nicht: Für dessen Umsetzung sorgten die Wirtschaftseliten, nämlich die IG Farbenindustrie mit Sitz in Frankfurt, also in direkter Nachbarschaft, wie allgemein bekannt!

Machen wir uns doch nichts vor, das Recherche-Team Korrektiv stellte AUCH fest, dass an diesem Geheimtreffen noch manch andere beteiligt waren,  nämlich: Burschenschafter, normale Bürger und Mittelstandler mit ehrbaren Berufen – wie Jurist*Innen, Unternehmer*Innen, Ärzt*Innen – die Hotelbetreiber nicht zu vergessen. Auch zwei CDU-Mitglieder sind dabei gewesen, sowie Mitglieder der Werteunion!!! Das muss man sich mal vorstellen: Menschen und Gruppen, die vom Verfassungsschutz beobachtet werden, können Parteien gründen, diese aufrecht erhalten und Steuergelder beanspruchen!!! Oder wie versteht ihr das ‚Noch-Nicht-Verbot der AFD‘ und die Gründung der Werteunion durch Hans Georg Maassen – wo bleibt der institutionelle Schutz vor der Erosion demokratischer Werte? Ach ja, Maassen war ja selbst Verfassungsschutz-Chef – UND CDU-Mitglied!

Und damit wären wir beim Thema: Rechte Inhalte und Rechte Parolen gibt es nicht nur bei den Rechtsextremisten oder Faschisten! Das ist die Spitze des Eisbergs! Rechte, menschenfeindliche Wissensbestände sind auch in der Mitte unserer Gesellschaft vorhanden und tief verinnerlicht!

Dagegen müssen wir vorgehen! Nicht nur auf Demos, sondern jeden Tag, im Alltag, in unserer Umgebung, in unseren Berufen und bei uns selbst! Hier könnte ich nun stoppen. Aber lassen Sie mich dies noch ausführen.

Ich möchte Sie einladen, die Perspektive zu wechseln, was ich gern mit meinen Studierenden versuche. Lassen Sie uns den Blick mal de-zentrieren. Dafür paar Worte zu mir selbst: obwohl ich über die Sinnhaftigkeit meiner  Anwesenheit für heute hier Zweifel hatte, habe ich entschieden, hier zu sprechen  – als Einzelperson, die nicht organisiert ist… Ich bin nur eine von vielen … doch von sehr, sehr vielen …
Ich spreche hier nämlich als Betroffene, weil ich – statistisch gesehen – einen sogenannten Migrationshintergrund habe! Was oft genug Anlass für diejenigen ist, die darüber spekulieren, ob ich genügend assimiliert, integriert, angepasst oder vielleicht auch nicht!

Ich stehe hier wie viele andere Betroffene, die Rassismen kennen – den Jüd*Innen, Muslim*Innen, Sinti*zze & Rom*nja, den Asiat*Innen, Schwarz-Gelesenen oder Slaw*Innen – den Migrantisierten, den People of Color, den Marginalisierten in unserem demokratischen Deutschland.
Meine Eltern sind vor über 50 Jahren als sogenannte Gastarbeiter aus der Türkei gekommen. Ich selbst wurde in FFM geboren, und zusammen mit meinen Schwestern stellen wir die zweite Generation dar.
Ich habe hier mein Abi und Studium gemacht, hab im Ausland Deutschland repräsentiert. Ich habe hier viele Gebäude geplant und über Städte gelehrt, Kommunalberatung gemacht. In meiner binationalen Ehe kam unser wunderschönes Kind hervor, womit ich nun bereits die dritte Generation eingeläutet habe. Doch trotz alledem – sagt man mir: „Das Türkische braucht Dein Kind doch gar nicht, andere Sprachen sind wichtiger!“ – „Warum bist du in all den Jahren überhaupt hier?“ – „Das kennst Du in Deinen Kreisen, bei uns ist das vollkommen anders normal!“ – „Geh‘ lieber erst einmal nachlesen, dann
weißt Du besser, was wirklich zählt! Sind das Wertschätzung, Begegnungen auf Augenhöhe oder gleichwertige Teilhabe in einer pluralistischen Demokratie – frag ich euch?

Als Betroffene frag mich aber nicht erst seit den „breaking news“ des Correctives: soll ich nun meine Koffer endlich packen. Muss ich mich und meine Familie dem aussetzen – diesen kontinuierlichen gesellschaftlichen und strukturellen Barrieren!!! Und im schlimmsten Fall rassistische Gewalt – wie
Mölln, Solingen, Rostock-Lichterhagen, München, Halle, Kassel oder Hanau gezeigt haben!!! Bestimmt habe ich einige Ereignisse nicht erwähnt… Das diese Alltagsrassismen und rechtsextremen Übergriffe weitergehen werden, wenn sich nicht wirklich etwas ändert – das ist uns doch allen klar – oder?

Also – frage ich uns alle – Sind wir wirklich überrascht von rechten Geheimtreffen und Netzwerken – denkt an den NSU 1.0 und 2.0, sowie den täglichen, auch von etablierten und neueren Parteien geäußerten Spaltungsversuchen und Verschärfungen in der Migrationspolitik – gerade vor Wahlen immer wieder ein Lieblingsthema! Wie kann es sein, dass trotz den Erfahrungen aus dem 2. Weltkrieg und der anschließenden vorbildlichen Erinnerungskultur Deutschlands eine offen faschistische, menschenfeindliche und demokratiefeindliche Partei im Parlament mit über 20% der Wähler*Innenstimmen sitzt? Irgendwas läuft doch hier schief, oder?

Nun, wir alle dürfen einfach nicht vergessen, dass wir nicht in einem Nationalstaat leben, sondern in einer demokratischen und pluralistischen Republik, die auf Grundrechten basiert! Wir orientieren uns deshalb weniger an einem geschichtlichen Ursprung eines homogenen Volkes mit seiner weißen Leitkultur – was Friedrich März schon 2000 erwähnte. Wichtiger ist die Gemeinschaft aller hier Lebenden und der gesellschaftliche Zusammenhalt im Pluralismus. Dafür brauchen wir wirkliche Lösungen für weniger Ungleichheiten, sehr gute Bildung und erschwinglichen Wohnraum in guten Städten. Lasst uns unsere Differenzen endlich feiern und damit auch unsere Widersprüche und Potentiale ausleben, anstatt uns davon spalten zu lassen… Nachhaltige Demokratien messen sich an ihrem Umgang mit Minderheiten.

Deshalb bin ich heute hier aufgestanden und spreche, als PoC, als Mig, als Frau laut aus: Auch für Migrantisierte und Marginalisierte gilt: die Würde des  Menschen ist unantastbar! Ohne dieses Grundrecht haben wir alle keine Demokratie mehr!